Die Perfektionsfalle
Die Einwohner eines sehr ländlichen Ortsteils beklagen eine seit Jahren fehlende Anbindung an den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Die Entfernung zwischen Ortsteil und Kernstadt beträgt rund 17 Kilometer. Der nächste größere Ortsteil mit den nächsten Einkaufsmöglichkeiten ist zwei Kilometer entfernt. Einen Geh- oder Radweg gibt es nicht. Die Fußgänger müssen auf einer engen und kurvenreichen Landesstraße neben dem Verkehr laufen.
Die Einwohner schilderten dem Bürgerbeauftragten, dass eine Buslinie auf der am Ortsteil vorbeiführenden Landesstraße verkehren würde und machten Vorschläge zur Einrichtung einer Bushaltestelle bzw. einer Bedarfshaltestelle an der Einmündung zu ihrem Ortsteil. Alternativ schlugen sie vor, dass der Bus von der Landesstraße ab und etwa 100 Meter in den Ort fahren solle. Dort könnte nach ihrer Vorstellung auf einem unbefestigten Wendeplatz eine Haltestelle eingerichtet werden.
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Lösungsansatz und Ergebnis
Die Auskunft von der für den ÖPNV in diesem Bereich zuständigen kreisfreien Stadt brachte zu Tage, dass die Problematik dort bekannt ist. Gemeinsam mit der Polizei und dem Thüringer Landesamt für Bau und Verkehr als Straßenbaulastträger war die Einrichtung einer Bushaltestelle bereits geprüft worden: Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten könne aber keine sichere, fachgerecht ausgebaute Haltestelle mit Wartefläche neben der Fahrbahn der Landesstraße errichtet werden. Die Einrichtung einer Haltestelle im Ortsteil war ebenfalls geprüft worden. Als Voraussetzung hierfür wurde zunächst aber der fachgerechte Ausbau der Haltestelle mit Wartefläche, die Befestigung der vom Bus genutzten Verkehrsfläche in Asphalt und die Absicherung der ständigen Befahrbarkeit der Verkehrsfläche sowie des Ein- und Ausfahrtsbereichs an der Landesstraße definiert.
Außerdem wies die Kommune auf das Problem der ständigen Unterhaltungskosten hin. Zudem würde sich die Fahrtzeit der Buslinie deutlich verlängern, weil sich der Bus im Feldversuch bei der Ausfahrt aus dem Ortsteil nur schwer wieder in den fließenden Verkehr auf der Landesstraße einordnen konnte.
Für die Bürger waren diese Argumente nur schwer nachzuvollziehen, da sie schließlich nur eine einfache Einstiegsmöglichkeit für den ohnehin hier verkehrenden Bus erreichen wollten. Ihr Wunsch kollidierte allerdings mit den für die Errichtung von Bushaltestellen vorgeschriebenen hohen Regeln und Standards. Und schließlich wird die Einrichtung einer Bushaltestelle nur dann finanziell gefördert, wenn sie vollkommen fachgerecht, also barrierefrei, bau-, verkehrs- und systemtechnisch einwandfrei, den geltenden technischen Vorschriften und Umweltstandards entsprechend, genehmigungs- und baurechtlich sowie bautechnisch einwandfrei errichtet ist. Ansonsten fallen die Investitionskosten der Kommune vollständig zur Last.
Was für die betroffenen Bürger letztlich unverständlich blieb, nennt der Bürgerbeauftragte „die Professionalisierungs- oder Perfektionsfalle“. Herzberg wörtlich: „Leider gibt es immer wieder diese Situationen, in denen die Betroffenen einfache, manchmal auch provisorische Lösungen sehen. Diese finden keine Umsetzung, weil die Standards – wie hier für den Haltepunkt eines Busses – so hoch und kostentreibend sind, dass letztlich nichts passiert. Das Perfekte verhindert das Machbare. Schade.“
Zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger, die wir beraten, behalten wir uns vor, bei den geschilderten Fällen auf Namen und Ortsangaben zu verzichten oder sie so abzuwandeln, dass eine Identifikation ausgeschlossen werden kann. Zur besseren Verständlichkeit verzichten wir auf eine exakte Darlegung der Rechtslage, sind aber gerne bereit, diese auf Nachfrage zu erläutern.
Stand: 8/2023